So verschieden die Aufstände waren, haben sie doch eine wichtige Gemeinsamkeit: Im Mainstream heutiger politikwissenschaftlicher Debatten finden sie keine Beachtung. Universelle Menschenrechte werden weithin als Errungenschaft westlich-liberaler Denktraditionen gehandelt. Der lange Kampf für wirklich universelle Rechte, den People of Colour führen mussten, fällt unter den Tisch.
Die in diesen Beispielen hervortretende kollektive Blindheit für den kolonialen Gehalt solch eurozentrischer Strukturen und Denkweisen ist ein strukturelles Defizit der Politikwissenschaften, argumentiert Aram Ziai, der Herausgeber des Sammelbandes Postkoloniale Politikwissenschaften. Die in seinem Buch versammelten Essays hinterfragen deshalb aus postkolonialer Perspektive den der Disziplin inhärenten Anspruch auf Universalismus und zeigen an konkreten Fällen die historisch-geographischen Wurzeln politischer Konzepte und Ideen auf. Gleichzeitig konstatiert der in Kassel lehrende Politikwissenschaftler jedoch, dass die deutschsprachigen Postkolonialen Studien an einer »unsystematischen und oberflächlichen Auseinandersetzung mit politischen Institutionen und Prozessen« leiden. Die thematischen Schwerpunkte des Buches sollen dazu beitragen, diese Defizite, die Ziai in seinem einführenden Beitrag als komplementär zueinander identifiziert, aufzuarbeiten.
Eine Vielzahl wiederkehrender Fragestellungen und theoretischer Perspektiven der Anthologie findet sich in Bilgin Ayatas Beitrag über den parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSU. Sie stellt die Aufarbeitung des NSU-Komplexes als möglichen Bruch in einem dominanten gesellschaftlichen Selbstbild dar, das bislang sowohl die eigene koloniale Vergangenheit als auch das Fortbestehen von strukturellem Rassismus negiert hat. Basierend auf Materialien des parlamentarischen Untersuchungsausschusses stellt sie Momente des Silencing, des bewussten Verschweigens, heraus, in denen Fakten oder Geschehnisse, die den Bruch mit dem Rassismus erweitern könnten, verschwiegen oder als irrelevant abgetan werden. Ayata erwähnt die Sicherheitsbehörden in ganz Deutschland, die auf dem rechten Auge blind sind und konsequent an einem rassialisierten Täterbild festhielten, das von einem »rigide[n] Ehrenkodex« südosteuropäischer Gruppen ausging. Zugleich kritisiert sie den ersten parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der in seinem Abschlussbericht nicht explizit auf die Aktenvernichtungen staatlicher Behörden einging und so das Narrativ vom »Terror-Trio« als Akteur ohne Unterstützung von staatlicher Seite nicht konsequent hinterfragt.
Wie Ayata konstatieren auch andere AutorInnen, dass die innerdeutsche Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Nationalsozialismus von doppelten Standards durchzogen ist. Sicherlich, Ziais Aussage, dass es in Anbetracht kolonialer Gewaltexzesse Heuchelei sei, erst in den Vernichtungslagern von Auschwitz einen Zivilisationsbruch zu sehen, wird – besonders in linken Kreisen – für Kontroversen sorgen. Doch wenn, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, ein deutsches Lehrbuch zu Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert noch »die zivilisatorischen Leistungen des Kolonialismus« erwähnt, sollte klar sein, dass dies nur die Spitze eines Eisberges rassistischer Denkweisen ist.
Insofern erfüllt die Anthologie ihr selbst gestecktes Ziel, ein Korrektiv für im Mainstream geführte Debatten zu sein. Gleichzeitig ist die thematische Zusammenstellung der Schwerpunkte so ausgewogen, dass eine Fülle ‚typischer‘ postkolonialer Fragestellungen und theoretischer Ansätze vermittelt wird.
Dominic Lammar
Aram Ziai (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge. transcript Verlag, Bielefeld 2016. 401 Seiten.